"Sie, Herr Kollege, haben versagt!"

Die medizinische Versorgung hat zweifelsohne in den letzten Jahrzehnten enorme Fortschritte zu verzeichnen.

Solche Fortschritte müssten sich jedoch in einer allgemeinen Gesundung der Bevölkerung wiederspiegeln und zudem die Kosten im Gesundheitswesen - auf Grund der weniger Kranken - senken.

Bedauerlicherweise ist das Gegenteil der Fall. Immer mehr Patienten leiden unter chronischen Krankheiten und sind dazu verurteilt, lebenslang Medikamente einzunehmen.

Könnte es auch daran liegen, dass wir Ärzte immer mehr Patienten in einer kürzeren Zeit zu versorgen haben? Und damit oberflächlich, zu oberflächlich, versorgen? Können wir in 10 Minuten die medizinischen Bedürfnisse eines Individuums erfassen? Ich glaube kaum. Und wenn, dann funktioniert das nur bei Krankheiten, welche schon von alleine ausheilen würden.

Aber unsere Behörde, die Krankenkassen, überwachen über uns und richten ihren Finger auf uns wenn wir längere Konsultationen zu lasten der Versicherungen abrechnen. Das geht so weit, als wir immer wieder der Bedrohung ausgesetzt sind, verrechnete Leistungen an den Krankenkassen zurückzahlen zu müssen. Zur Zeit ist in der Schweiz eine regelrechte Welle von solchen Anzeigen im Gang!

Kein Wunder hat ein Allgemeinarzt-Kollege seinem jungen Assistenzarzt so ziemlich klar zu verstehen gegeben: «Wenn Sie mehr als 10 Minuten pro Patient benötigen, so haben Sie, Herr Kollege, versagt!»

Wollen wir tatsächlich solche Aerzte ausbilden?

So hat eine Patientin wegen einer Knieentzündung beim Hausarzt Antibiotika und Rheumamittel erhalten. Hätte der Arzt sich mehr Zeit genommen um herauszufinden, dass sie 5x täglich kniet um zu beten, hätte die Therapie eine ganz andere sein müssen!

Dies zu vernehmen liess mich aufhorchen… Was für eine Medizin wünschen wir uns für unsere Zukunft?

Aber es geht noch schlimmer!

Kürzlich hat eine Dame, die aus Deutschland in der Schweiz zu Besuch war, mich in der Praxis mit einem akuten Rückenleiden aufgesucht. Als ich begonnen hatte, sie zu untersuchen und die ersten 10 Minuten bereits verstrichen waren, bemerkte sie spontan: «So viel zeit habe ich noch nie bei einem Arzt in Deutschland verbracht! Maximal 5 Minuten! Und bei den Spezialisten, welche mein Parkinson diagnostiziert haben, keine 10 Minuten!»

Ich habe Angst.

Kürzlich hat ein Arzt-Kollege sich damit profiliert, wie viele Patienten er an einem Tag sehen konnte. Es waren ca. 120...!

Zurückblickend auf 35 Jahren Praxistätigkeit befürchte ich, dass sich dieser Trend auch bei uns zu einer 5 Minutenmedizin (an stelle der heute immerhin 10 Minutenmedizin) entwickeln wird. Bis dahin sind wir Ärzte definitiv zu einer Rezept-Maschine verkümmert. Und die Explosion im Gesundheitswesen geht weiter in die nächste Runde.