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Die Bedeutung von Tränen

Bei der Teilnahme am Gottesdienst zum Ewigkeitssonntag am 24. November 2019 von Pfrn. Sibylle Forrer in der ref. Kirche Kilchberg habe ich eine der schönsten Predigten erfahren dürfen. Sie hat mich zutiefst berührt und begleitet mich fortan auf meinem Weg als Arzt.

Wann haben Sie das letzte Mal geweint? Und was war der Anlass? Die Trauer um einen geliebten Menschen? Die Wut über ein erlittenes Unrecht? Die Freude über eine liebe Geste? Weinen ist nicht an eine bestimmte Emotion gebunden und kann Ausdruck ganz unterschiedlicher Gefühlsregungen sein; von abgrundtiefer Verzweiflung bis hin zum glücksbedingten Höhenflug. Weinen ist - wie das Lachen - eine archetypische Ausdrucksform des Menschen, die nur bedingt zu kontrollieren ist und sofort von allen Menschen verstanden wird. Auch wenn man nicht dieselbe Sprache spricht und einen ganz unterschiedlichen kulturellen Hintergrund hat, wird weinen - und auch lachen - sofort verstanden. Es ist eine internationale Sprache. Das Weinen ist zudem das erste Kommunikationsmittel, das wir Menschen haben. Ein Säugling weint, um sich der Zuwendung zu versichern und seine Bedürfnisse anzuzeigen. Noch bevor der Mensch lacht, weint er.

Warum wir Menschen weinen, haben viele Forscherinnen und Forscher eingehend untersucht und doch ist man zu keinem eindeutigen Ergebnis gekommen. Weint der Mensch, weil er damit sein Umfeld auf seine Gefühlslage aufmerksam machen will und zur sozialen Interaktion auffordert; schau hin, ich weine, nimm mich bitte in den Arm. Oder weint der Mensch, weil er sich damit Erleichterung verschafft, Weinen als Schutzreaktion des Körpers und der Psyche; ich weine, um Spannungen abzubauen und emotionale Eindrücke besser verarbeiten zu können. Kleinkinder zeigen uns, dass wohl beides zutrifft: Der Mensch weint, um andere auf seine Bedürfnisse aufmerksam zu machen und ebenso, um damit die Welt, das Leben und alle Eindrücke verarbeiten zu können.

Die physische Fähigkeit zu weinen, ist allen Menschen gemeinsam. Der Umgang mit dem Weinen jedoch sehr verschieden. Je nach kulturellem Kontext gelten andere Gepflogenheiten. Während in gewissen Kulturen das öffentliche Wehklagen gesellschaftlich verankert und teilweise auch ritualisiert ist, gilt in unseren Breitengraden das Weinen als Privatsache. Wer in der Öffentlichkeit weint, irritiert zu weilen. Roger Federers Tränen nach Sieg und Niederlagen an grossen Turnieren gaben zu allerlei Diskussionen Anlass, über ihn als Sportler, als Mensch, als Mann, ja selbst als Vater, indem ein Journalist in einem Artikel geschrieben hatte, welches Bild seine Kinder wohl von ihm hätten, wenn sie ihn weinend auf dem Tenniscourt sähen. Politiker ist es höchstens gestattet, bei ihrem nach Jahre harter Arbeit verdienten Rücktritt zu weinen, ansonsten gilt es schnell einmal als Zeichen der Schwäche. Bei Politikerinnen wird das Weinen nochmals anders bewertet, sie gelten dann als - typisch weiblich - übertrieben emotional, oder als manipulativ, aber wenn sie gar nicht weinen - wie zum Beispiel Angela Merkel - dann ist es irgendwie auch nicht recht und sie werden rasch als kaltherzig und emotionslos beschrieben. Den Geschlechtern wird ein unterschiedliches Mass an Weinen zugestanden und es wird auch unterschiedlich bewertet. Während Weinen lange als „unmännlich“ galt, weiss man heute, dass Menschen - völlig unabhängig von ihrem Geschlecht - unterschiedlich nahe am Wasser gebaut sind, wie der Volksmund zu sagen pflegt.

Es gibt Menschen, bei denen braucht es wenig und ihnen läuft das Wasser aus den Augen. Und es gibt andere, die auch im tiefsten Schmerz noch keine Träne vergiessen. Es ist deshalb noch lange nicht nur traurig, wer auch weint. Weinen ist nur EIN möglicher Ausdruck von Emotionen.

Sicher ist: Weinen bzw. das weinen können gehört zum Menschsein. Mehr noch: Das Weinen gehört zum Leben. Ein toter Mensch weint nicht mehr. Es ist etwas vom ersten, das nach dem Tod geschieht, dass die Tränenkanäle keine Flüssigkeit mehr produzieren. Weinen ist ein Zeichen des Lebens.

Die Bibel kennt viele tränenreiche Geschichten und berichtet von Menschen, die weinen. Abraham weint um seine Frau Sara, Jakob trauert um seinen Lieblingssohn Josef, den die Brüder verkauft haben und will sich nicht trösten lassen. David wird an seiner Trauer um seinen Sohn Absalom fast verrückt und findet den Weg zurück in ein geordnetes Leben nicht mehr. Die biblischen Geschichten wissen um den Einschnitt in das Leben, den die Trauer mit sich bringen kann. Alles fällt auseinander. Alles muss neu geordnet werden. Neu organisiert. Das ist schmerzhaft, anstrengend, zuweilen langwierig - und es gelingt nicht immer.

Auch Jesus weint. Der Evangelist Johannes beschreibt Jesu Reaktion auf den Tod seines Freundes Lazarus kurz und schnörkellos: „Jesus weinte.“ Jesus weint angesichts des toten Lazarus, obwohl er doch gerade noch von dessen Auferstehung gepredigt hatte. Das Vertrauen darauf, dass der Tod nicht das letzte Wort hat, tröstete ihn nicht über den Verlust seines Freundes hinweg. Jesus „gingen“ - wie Luther übersetzte - vor Trauer „die Augen über“. Er liess seinen Emotionen, seiner Trauer, freien Lauf. Was Jesus erfahren hat, das erleben auch viele Trauernde: Da ist zwar das Vertrauen und die Hoffnung darauf, dass mit dem Tod nicht alles aus ist, dass es der verstorbene Mensch jetzt „gut hat“ oder sogar „besser hat“ und Jesu Zusage gilt uns unbedingt, dass wir im Leben und im Tod bei Gott geborgen sind. Dieses Vertrauen ist tröstlich und schenkt Geborgenheit. Aber es vermag den Verlust nicht zu tilgen. Der Schmerz darüber, dass der geliebte Mensch nicht mehr am bzw. im Leben ist, bleibt und er macht traurig. Dieser Schmerz heilt meistens irgendwann, nadisnah, mit der Zeit. Wo zuerst eine klaffende Wunde ist, bleibt irgendwann eine leise pochende Narbe. Dieser Heilungsprozess ist individuell, manchmal tränenreich, manchmal stumm und jeder Mensch soll ihn in seiner Weise gehen können.

Auch Gott weint. Der Prophet Jeremia beschreibt, wie Gott darüber weinen muss, dass die Menschen so viel Unrecht anrichten. Es ist ein verzweifeltes Weinen, in dem Trauer und Wut, Verzweiflung und Zorn mitschwingen. Auch wenn dieses Bild eines rachsüchtigen Gottes in verschiedener Hinsicht schwierig ist, so hat es doch auch etwas sehr Tröstliches: Gott wird hier als Gott beschrieben, der das Unrecht dieser Welt nicht hinnimmt. Gott, der leidenschaftlich für das Wohl der Menschen und der Welt kämpft. Gott, der mitfühlt, mitleidet, mittrauert. Gott, der weint. Der Glaube an Gott, der über das Elend und das Unrecht dieser Welt weint, ist für mich oft ein tröstlicher Gedanke, wenn mich der Schmerz der Welt angesichts all der schrecklichen Nachrichten zu überrollen droht.

Und angesichts des vielen Unrechts in unserer Welt, angesichts all der Toten, die noch lange keine hätten sein dürfen, all den Tränen, die vergossen werden, wünscht man sich zuweilen eine neue Welt.

„Ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde vergingen.“ Diese Vision steht am Ende der biblischen Schriften. Es ist ihr tröstliches Ende. Die konkrete Beschreibung dieser neuen Welt mit der königlichen Stadt Jerusalem ist uns wohl eher fremd und hat ihren Sitz im damaligen kulturellen Kontext. Die Worte, die auf diese Beschreibung folgen, die kommen uns aber ganz nah. Es heisst dort: Gott werde bei den Menschen wohnen „und Gott werde jede Träne von ihren Augen abwischen. Der Tod werde nicht mehr sein. Auch Trauer, Wehgeschrei und Schinderei werden nicht mehr sein“.

Gott wird jede Träne abwischen. Es gibt meines Erachtens kaum einen Text in der Bibel, der ein innigeres Verhältnis von Gott zu den Menschen beschreibt. Jemandem die Tränen abwischen, ist eine Geste innigster Vertrautheit. So nahe lassen wir kaum jemanden an uns heran. Eltern wischen ihren Kindern die Tränen aus den Augen. Vielleicht Liebende einander. „Und Gott wird abwischen jede Träne von ihren Augen.“ Gott tröstet. Unendlich innig. Jede einzelne Träne, die grossen und die kleinen, die herausgeschluchzten und die stummen, die strömenden und die versiegten, alle werden sie von Gott abgewischt, alle von Gott gesehen.

„Beyond the door there’s peace I’m sure / and I know there’ll be no more / tears in heaven“, diese Textzeile aus dem weltbekannten Lied von Eric Clapton ist wohl vielen von Ihnen bekannt. Clapton hat es geschrieben, um den Tod seines erst vierjährigen Sohnes, der bei einem Unfall starb, zu verarbeiten. Das Lied bringt die tröstliche Hoffnung zum Ausdruck, die wir alle gerne in Bezug auf den Tod in Worte fassen: Der Tod bringt den Frieden, er bringt das Ende des Leidens. Das Lied bringt dieselbe Hoffnung zum Ausdruck wie der Text aus der Offenbarung: Das Sein bei Gott - heaven, wie Clapton singt - ist, was uns alle erwartet.

Im Unterschied zu Clapton sagt der Text aus der Offenbarung aber, dass es dort Tränen, geben wird. Beide - die Vision aus der Offenbarung und die Textzeilen von Clapton - beschreiben den Frieden, einen Zustand ohne Leiden, ohne Trauer, ohne Schmerz. Aber in der Offenbarung sind da noch Tränen. Das sind Tears in Heaven. Da sind noch Tränen, weil diese Tränen auch das sind, was uns ausmacht. Weil sich in ihnen die Geschichte unseres Lebens spiegeln. Und weil wir durch unseren Tod nicht verloren sind. Weil unsere Lebensgeschichte bleibt. Unser Weinen und unser Lachen hallt nach. Wir sind mit unserer ganzen Lebensgeschichte aufgehoben bei Gott. Das ist die Zusage, die in der Vision aus der Offenbarung anklingt. Keine unserer Tränen bleibt ungesehen, keine geht verloren. Und Gott wird abwischen jede Träne von unseren Augen.

Als Kind bekam ich von meiner Mutter ein Taschentuch geschenkt. Ein Stofftaschentuch, das als Aufdruck ein Mädchen auf einer Wiese hat und mit einem roten Saum verziert ist. Sie gab es mir, als ich einmal bitterlich weinte, den Grund weiss ich nicht mehr. Ich trug das Taschentuch fortan oft bei mir. In der Hosentasche, im Thek, später sogar noch in der Handtasche und heute in der Tasche in meinem Talar. Das Taschentuch war mir - ganz unbewusst - Symbol dafür geworden, dass - wenn immer ich Trost brauche - jemand da ist, der meine Tränen sieht und sie abwischt.

Liebe Gemeinde
Wir alle brauchen Menschen, die für uns da sind, wenn wir weinen - seien es Tränen der Trauer oder Tränen der Freude. Das Vertrauen darauf, dass wir mit unseren Gefühlen nicht allein gelassen werden, trägt uns durch das Leben. Dieses Vertrauen ist für uns lebensnotwendig und deshalb versichern wir uns dessen auch schon mit dem ersten Schrei bei unserer Geburt. Seien wir uns deshalb gegenseitig verlässliche Begleiterinnen und Begleiter. Beobachten wir aufmerksam und feinfühlig, und scheuen wir uns nicht, Emotionen zu zeigen. Sie sind es, die uns zu Menschen machen und in denen wir einander erkennen, über alle Kommunikationsgrenzen hinweg. Reichen wir einander Taschentücher an Hochzeiten und Beerdigungen und wischen wir dann, wenn es angebracht ist, einander die Tränen ab.

„Und Gott wird jede Träne von ihren Augen abwischen.“ There are Tears in Heaven. Weil wir bei Gott aufgehoben sind als ganzer Mensch. Mit unserer ganz eigenen Geschichte. Im Leben und im Tod.

Amen

Pfrn. Sibylle Forrer

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